Milliardeninvestitionen in die Produktion, Beschaffung und Innovation der europäischen Verteidigungsindustrie sind dringend erforderlich. Warum die Branche jetzt zum strategischen Schlüsselbereich wird – und welche Konsequenzen dies für Investitionen, Kapazitäten und die industrielle Basis Europas hat, erklärt Olivia Noirot-Nérin, Co-Director des Sienna Héphaïstos Fonds bei Sienna Investment Managers, in ihrem nachfolgenden Kommentar:
Die Finanzierung der europäischen Verteidigungsindustrie, zu der auch Tausende kleine und mittelständische Unternehmen sowie börsengehandelte Instrumente gehören, erscheint inzwischen dringlicher denn je. Angesichts zunehmender Krisen und der wachsenden Zurückhaltung Amerikas als Verbündeter sind sich die europäischen Staaten der Notwendigkeit bewusst geworden, ihre Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen. Allerdings ist die Friedensdividende für ihre Streitkräfte durchaus spürbar geblieben.
So wurde die Anzahl der Kampfpanzer in Europa zwischen 1992 und 2022 von rund 19.000 auf 4.400 reduziert – viele davon sind mittlerweile nicht mehr einsatzfähig. Die Zahl der Kampfflugzeuge sank im selben Zeitraum von 3.700 auf 1.600 und die der U-Boote von 107 auf 57. Entgegen der in Deutschland verbreiteten Annahme, Frankreich verfüge über eine bestens ausgestattete Armee, kann die französische Landstreitkraft aufgrund fehlender Ausrüstung beispielsweise nur etwa 20 Prozent ihrer Truppen tatsächlich einsetzen.
UNTERSCHIEDLICHE ENGAGEMENTS
Mit einem Anstieg der globalen Militärausgaben um 9,4 Prozent im Jahr 2024, wie das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) berichtet, kann sich niemand dieser Entwicklung mehr entziehen. Während die osteuropäischen Staaten bereits drei bis vier Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung ausgeben, holen andere Länder, die diesen Kurs zunächst kritisch sahen, nun auf.
Deutschland:
Mitten in einer sicherheitspolitischen Zeitenwende gab Deutschland im Jahr 2024 rund 78 Milliarden Euro für Verteidigung aus, was 2,12 Prozent des BIP entsprach. 20 Milliarden Euro davon kamen aus dem im Jahr 2022 eingerichteten Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro zur Modernisierung der Ausrüstung. Obwohl Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern keine eigene nukleare Abschreckung finanzieren muss, nimmt es in absoluten Zahlen die Spitzenposition in Europa ein. Die neue Regierungskoalition plant außergewöhnliche Investitionen von etwa 500 Milliarden Euro in die Verteidigungsinfrastruktur. Dank einer über viele Jahre soliden Haushaltspolitik ist das Land nun in der Lage, seine Streitkräfte, denen zuvor lange wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, auf ein modernes Niveau zu bringen.
Frankreich:
Mit dem Mitte 2023 verabschiedeten Gesetz zur Militärplanung sind kumulierte Ausgaben von 413 Milliarden Euro für den Zeitraum von 2024 bis 2030 vorgesehen. Das Verteidigungsbudget soll somit schrittweise von 44 Milliarden Euro im Jahr 2023 auf 68 Milliarden Euro im Jahr 2030 steigen. Die Schwelle von zwei Prozent des BIP wurde 2024 mit 2,06 Prozent erstmals überschritten, was einem Ausgabenplus von rund sechs Prozent entspricht. Diese Entwicklung setzt voraus, dass die Regierung sowohl politisch als auch haushalterisch in der Lage ist, den Kurs weiterzuverfolgen – zumal der Verteidigungsminister bereits angekündigt hat, dass das Zielbudget bis 2030 auf etwa 100 Milliarden Euro (rund 3 Prozent des BIP) angepasst werden sollte. Zudem kündigte der französische Präsident Emmanuel Macron im Juli 2025 eine weitere Erhöhung der Verteidigungsausgaben um 3,5 Milliarden Euro für 2026 und 3 Milliarden Euro für 2027 an.
Andere europäische Länder:
Laut NATO hat Italien im Jahr 2024 nur 1,5 Prozent seines BIP für Verteidigung ausgeben, obwohl es sich verpflichtet hat, bis 2025 das 2-Prozent-Ziel zu erreichen. Spanien liegt mit 1,3 Prozent noch darunter und es scheint unwahrscheinlich, dass das Land seine Militärausgaben erhöhen wird. Im Gegensatz dazu verwendet die Ukraine 37 Prozent ihres BIP für die Verteidigung gegen die russische Aggression.
ERSTE SCHRITTE
Die Europäische Kommission erweitert schrittweise ihre Zuständigkeiten im Verteidigungsbereich über Artikel 42.7 des Vertrags über die Europäische Union hinaus und bemüht sich, die Modernisierung der Streitkräfte zu katalysieren und zu koordinieren. Im Jahr 2017 wurde der European Defence Fund mit einem Volumen von 13 Milliarden Euro eingerichtet, um grenzüberschreitende und interoperable Projekte zu fördern. 2023 startete die Initiative EDIRPA (300 Millionen Euro), die den Erwerb von hauptsächlich in Europa hergestellter Ausrüstung unterstützt. Als Reaktion auf die im Februar 2025 gehaltene Rede von US-Vizepräsident JD Vance, in der er das Weiterbestehen des amerikanischen Sicherheitsschirms infrage stellte, hat die Europäische Kommission das Programm ‚ReArm Europe‘ ins Leben gerufen.
Letzterer zielt darauf ab, außergewöhnliche Investitionen der EU-Länder bis 2030 zu erleichtern. Zu diesem Zweck sollen die Regeln für Haushaltsdefizite bis zu einer Höhe von 650 Milliarden Euro gelockert werden. Zusätzlich sind weitere 150 Milliarden Euro in Form eines Darlehens für gemeinsame Investitionen vorgesehen. Diese Mittel stehen jedoch nur unter der Bedingung zur Verfügung, dass europäische Ausrüstung angeschafft wird. Dazu zählen beispielsweise auch F-35-Kampfjets, die in Italien montiert werden.
Auch wenn noch ein langer Weg vor uns liegt, bis alle Staaten einer Meinung sind, hat sich das kollektive strategische Denken Europas bereits gewandelt. Die Nationen legen zunehmend Wert auf eine größere Souveränität und die Koordination ihrer Anstrengungen mit einem starken Fokus auf neue Konfliktfelder wie den Weltraum, den Cyberspace, Drohnen, künstliche Intelligenz, den Meeresboden, Raketenabwehrsysteme und Ähnliches.

